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© Eurac Research | Marzia De Bortoli

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Gesund trotz vererbter Krankheit

Das Phänomen der unvollständigen Penetranz genetischer Krankheiten, am Beispiel der arrhythmogenen Kardiomyopathie

by Valentina Bergonzi

Es gibt genetische Mutationen, die mit hundertprozentiger Sicherheit zu einem bestimmten Merkmal oder einer Krankheit führen, das gilt zum Beispiel für Albinismus und Mukoviszidose. Aber bei vielen Krankheiten gibt es Menschen, die zwar dieselbe genetische Mutation geerbt haben, aber Zeit ihres Lebens nicht erkranken. Dies wird als unvollständige Penetranz bezeichnet. Mit einer repräsentativen Fallstudie untersucht die Forschungsgruppe für Herzkreislauferkrankungen von Eurac Research diese Dynamik am Beispiel der arrhythmogenen Kardiomyopathie.

Anna ist 20 Jahre alt, als sie aufgrund eines Herzproblems – es handelt sich um eine Herzrhythmusstörung – erstmals das Bewusstsein verliert. Nach mehreren Untersuchungen stellt sich heraus, dass Anna an arrhythmogener Kardiomyopathie leidet, einer schwerwiegenden Herzerkrankung, für die es derzeit keine Therapie gibt. Das Leben der jungen Frau ändert sich radikal: Es wird ihr ein interner Defibrillator implantiert, der ihrem Herzen jedes Mal einen elektrischen Impuls versetzt, wenn es stehen bleibt. Ihren Tagesablauf muss sie komplett umstellen. Vor allem muss sie den Sport aufgeben, den sie vorher intensiv betrieben hat.
Auch für ihre Familie verändert sich das Leben: Zunächst die Sorgen um Anna, und da es sich bei der arrhythmogenen Kardiomyopathie um eine Erbkrankheit handelt, steht die Frage im Raum, ob auch andere Familienmitglieder daran erkranken könnten.
An diesem Punkt kommt jemand hinzu, der Annas Geschichte mitschreibt und in ein neues Licht rückt.

Der mit dem Fall betraute Kardiologe nimmt Kontakt mit der Forschungsgruppe für Herzkreislauferkrankungen von Eurac Research auf. Es entsteht die Idee zu einer möglichen gemeinsamen Studie.
„Anna ist aus Datenschutzgründen ein fiktiver Name. Aber die großzügige Bereitschaft von Anna und ihrer Familie an der Studie teilzunehmen, ist sehr, sehr real“, sagt Marzia De Bortoli, Biologin von Eurac Research, gerührt, „sie haben es uns nämlich ermöglicht, die ganze Familie sowohl aus genetischer Sicht als auch auf zellulärer Ebene zu untersuchen. Da die arrhythmogene Kardiomyopathie eine seltene Krankheit ist, sind die gesammelten Ergebnisse äußerst wertvoll, um die molekularen Ursachen der Erkrankung zu erforschen, aber auch, um das Phänomens der unvollständigen Penetranz zu verstehen.“

Für einige Krankheiten gibt es Schätzungen dazu, wie hoch die Penetranzrate und damit auch das Erkrankungsrisiko ist. Aber für jene Menschen, die wissen, dass sie eine bestimmte Mutation haben, kann das Leben mit der Ungewissheit psychisch sehr anstrengend sein.

Was in der Wissenschaft als unvollständige Penetranz bezeichnet wird, beschreibt das Phänomen, dass Menschen mit genetischen Mutationen, die für eine Krankheit verantwortlich gemacht werden, dennoch Zeit ihres Lebens nicht an dieser erkranken.
Das ist an und für sich eine gute Nachricht. Das Problem ist jedoch, dass es bisher bei vielen genetischen Krankheiten – einschließlich der arrhythmogenen Kardiomyopathie – nicht möglich ist, zu unterscheiden, wer ein gesunder Träger oder eine gesunde Trägerin ist und wer die Krankheit entwickeln wird. Für einige Krankheiten gibt es Schätzungen dazu, wie hoch die Penetranzrate und damit auch das Erkrankungsrisiko ist. Aber für jene Menschen, die wissen, dass sie eine bestimmte Mutation haben, kann das Leben mit der Ungewissheit psychisch sehr anstrengend sein. So wurde in den vergangenen Jahren in der Presse über verschiedene prominente Persönlichkeiten berichtet, darunter Schauspielerin Angelina Jolie und Model Bianca Balti, die sich einer invasiven Operation zur vollständigen Entfernung der Brust unterzogen haben, weil bei ihnen eine BRCA1-Genmutation festgestellt wurde, die statistisch gesehen mit einem hohen Brustkrebsrisiko verbunden ist.
„Bei der arrhythmogenen Kardiomyopathie wiegt diese andauernde Ungewissheit noch schwerer, weil außer regelmäßigen kardiologischen Untersuchungen leider nicht viele Präventivmaßnahmen ergriffen werden können und in vielen Fällen das erste Symptom der Krankheit der plötzliche Tod ist,“ schildert De Bortoli.

Das Labor für die biomedizinische Forschung© Daniele Fiorentino | Eurac Research

Die Analyse von Proben und Stammzellen

Es gibt etwa 20 identifizierte Gene, die für die arrhythmogene Kardiomyopathie verantwortlich sind. Die Forschungsgruppe konzentriert sich auf eine Mutation im PKP2-Gen, einem der Gene, die bei Patientinnen und Patienten mit dieser Krankheit am häufigsten mutiert vorliegen. Die Forscherinnen analysierten Proben aus derselben Familie, die sie Familienmitgliedern mit einem mutierten Gen entnommen hatten, und die erkrankt sind, aber auch von anderen Verwandten mit derselben Mutation, die klinisch gesund sind – darunter eine ältere Person, die die Krankheit vermutlich nie entwickeln wird – und von einer Person, die die Mutation nicht geerbt hat (als Kontrolle).
Für jedes Familienmitglied wurden Kulturen von Kardiomyozyten, sprich Herzzellen, angelegt. Dabei wurde die Methode der induzierten pluripotenten Stammzellen angewendet, die aus Blutproben gewonnen wurden.

WIE INDUZIERTE PLURIPOTENTE STAMMZELLEN GEWONNEN WERDEN: 1. Blut, 2. Stammzelle 3. Zu Hirnzellen, Herzzellen, Leberzellen und Darmzellen reprogrammierte Zellen© Eurac Research | Oscar Diodoro

Ausschnitt einer Kardiomyozytenkultur, sprich schlagender Herzzellen. Die Bewegung, die man sieht, ist der Herzschlag. © Eurac Research | Marzia De Bortoli

„Wir haben bestimmte molekulare und zelluläre Merkmale analysiert und identifiziert, die sich – wenn man die untersuchten Menschen mit derselben Mutation betrachtet – zwischen denen, die erkrankt sind und denen, die nicht erkrankt sind, unterscheiden. Leider sind wir noch nicht in der Lage, den Patientinnen und Patienten eindeutige Antworten zu geben, aber diese Unterschiede identifiziert zu haben, ist an sich schon ein großer Schritt nach vorn, für den wir unseren Spenderinnen und Spendern sehr dankbar sind,“ unterstreicht Alessandra Rossini, Koordinatorin der Studie, sowie Biologin und Leiterin der Forschungsgruppe für Herzkreislauferkrankungen bei Eurac Research. „Die Tatsache, dass es – wenn auch kleine – Unterschiede auf genetischer und zellulärer Ebene gibt, bedeutet, dass wir weiter auf ein Diagnosesystem hinarbeiten können, mit dem wir so früh wie möglich feststellen können, ob eine Person ein gesunder Träger oder eine gesunde Trägerin der Mutation ist, und sie so aus dem Angstzustand herausholen können.“

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Die arrhythmogene Kardiomyopathie wird seit Jahren von Eurac Research erforscht. Zu den jüngsten Ergebnissen gehört die Identifizierung eines Moleküls, das die Fettablagerungen reduziert, die die Herzzellen von Patientinnen und Patienten mit arrhythmogener Kardiomyopathie beschädigt.
Das Dossier „Herzrhythmusstörungen“ beschreibt auf einfache Weise die verschiedenen Formen und den Stand der Forschung. Das Dossier entstand in enger Zusammenarbeit mit Dr. Werner Rauhe, dem ehemaligen Leiter der „Kardiologischen Intensivstation und Bettenstation“ am Krankenhaus Bozen, mit dem das Forschungsteam an zahlreiche Studien, unter anderem zur unvollständigen Penetranz, zusammengearbeitet hat.

Publikation und Finanzierung


Der wissenschaftliche Artikel "Modeling incomplete penetrance in arrhythmogenic cardiomyopathy by human induced pluripotent stem cell derived cardiomyocytes" ist im Computational and Structural Biotechnology Journal (CSBJ) erschienen. Die Mitautorin Maja Schlitter war Mitarbeiterin des Instituts für Biomedizin.

Die Forschungsarbeit wurde zum Teil im im Rahmen des Interreg-Projekts INCardio durchgeführt.

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