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„Ich konnte nie sicher sein, dass man mich versteht“

Über die Verständigungsschwierigkeiten bei extremen Rettungseinsätzen

Andrea De Giovanni
© Eurac Research | Andrea De Giovanni
by Sarah Gunsch

Die erfolgreiche Rettung von Schwerverletzten in Extremsituationen steht und fällt mit einer erfolgreichen Kommunikation, innerhalb des Rettungsteams ebenso wie mit der Außenwelt. Genau das konnten Notfallmedizinerinnen und -mediziner aus der ganzen Welt bei einer Schulung im Extremklimasimulator terraXcube unter widrigen Bedingungen trainieren.

So langsam wird es eng im Eingangsbereich des Zentrums für Extremklima-Simulation von Eurac Research. Um die Ausstellungstische drängen sich Fachleute und 40 Notfallmedizinerinnen und -mediziner aus der ganzen Welt, die der Einladung von Eurac Research gefolgt sind, um hier zwei Tage lang den Einsatz innovativer Technologien und Verfahren unter schwierigen Bedingungen im Gebirge – bei Wind, Kälte und Dunkelheit – zu trainieren. Seine Begrüßung an sie schließt Giacomo Strapazzon, Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin, mit dem Satz: „Let’s learn and be safe in adverse conditions.

Teil dieser außergewöhnlichen Schulung ist ein simuliertes Rettungsszenario im Large Cube, der größten Kammer des Extremklimasimulators. Hier werden die Teilnehmenden Umweltbedingungen wie im Hochgebirge vorfinden. Bereits im Voraus wurden Gruppen gebildet, das erste Notfallteam besteht aus drei Notärztinnen, zwei Notärzten und zwei Bergrettern, welche sich um technische Belange kümmern. Nach einem kurzen Briefing („Act as realistic as possible – as quick as you can, as long as it takes.”), wird das Team für den Notfalleinsatz im Hochgebirge ausgestattet. Zwei von fern angereiste Ärzte erhalten Schutzbekleidung, die restlichen haben ihre eigene dabei: Auf den Jacken und Helmen sind die Logos und Schriftzüge des Österreichischen Bergrettungsdienst, der Bergwacht Bayern und der amerikanischen Mountain Rescue Association zu erkennen. Während das Rettungsteam sich mit der Ausrüstung des Aiut Alpin Dolomites vertraut macht, Klettergurte angelegt und Stirnlampen befestigt werden, laufen auch im technischen Kontrollraum die letzten Vorbereitungen.

Auf mehreren Monitoren ist das Innere des Large Cube zu sehen. Von hier aus steuert Carsten Patzelt, Senior Technician des terrraXcube, die Klimabedingungen in der Kammer. Noch erleuchten die Lichter die aufgebaute Szenerie, in der sich die Teilnehmer gleich im Finstern wiederfinden werden. Ein riesiger Boulderblock mimt einen Berggipfel, um den schon jetzt der „Wind“ aus zwei Turbinen pfeift. „Sie sagen mir, wann sie Wind brauchen und wie viel“, erklärt Patzelt und schiebt einen Regler nach oben.

Die Teilnehmer bereiten sich auf die Übung vor.© Eurac Research | Andrea De Giovanni

Can you switch off the lights, please?”, tönt es durch die Sprechanlage, Patzelt klickt und auf den Schirmen wird es dunkel. Weiße Staubpartikel schießen im heftigen Wind auf dem Schwarz-Weiß-Bild der Monitore vorbei. In der Zwischenzeit wurden im Notfallteam die Rollen verteilt. Die Teamleaderin kommuniziert mit einem Walkie-Talkie mit den Trainern von Eurac Research – „der Rettungszentrale“.

Alles beginnt mit einem Notruf

Und dann geht’s los: Die Notrufzentrale meldet einen Bergunfall. Nach einem kurzen Telefonat teilt die Teamleaderin die spärlichen Informationen mit der Rettungsmannschaft: Eine Gruppe ist in Bergnot geraten, es ist kalt, Schlechtwetter naht, und es wird gleich dunkel. Die Gruppe ist lokalisiert worden, aber der Kontakt ist abgebrochen, und es gibt keine weiteren Informationen. Das Rettungsteam erreicht die Verunglückten eine Stunde nachdem der Notruf eingegangen ist.

Das ist das Stichwort. Die Trainer öffnen die Thermotür zum Large Cube und die Rettungsmannschaft betritt die Szenerie. Eiskalter Wind schlägt ihnen entgegen. Die Tür wird zugeschoben, und es ist finster. Nur die Stirnlampen auf den Helmen erhellen hier und da den Raum. Eine Leuchttafel an der Wand zeigt die Temperatur an: -17,5 °C. Die Schreie eines Verletzten übertönen die Windturbinen, und das Team versucht sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen.

Das Rettungsteam seilt sich zu den Verletzten ab.© Eurac Research | Andrea De Giovanni

Langsam wird klar, es gibt drei Verletzte: Verletzter Nummer 1 – von einem Freiwilligen gespielt – liegt in einem schmalen Zwischenraum zwischen der Wand und dem Kletterkubus. Er scheint bei Bewusstsein, aber schwer verletzt zu sein: Sein rechtes Bein ist in eine unnatürliche Position verrenkt, in seiner linken Schulter steckt ein Eispickel. Eine Notärztin kniet sich neben ihn und versucht ihn anzusprechen. In dem heulenden Wind ist die dünne Stimme des Verletzten kaum zu verstehen.

Laute Hilferufe kommen hingegen von der Hinterseite des Felsens. Ein Bergretter und ein Mediziner klinken sich mit ihren Karabinern ein und beginnen, den Boulderblock hochzuklettern. Auf der anderen Seite angekommen, seilen sie sich in ein enges Felsloch ab. Hier unten, vom eisigen Wind etwas geschützt, sitzt an die Felswand gelehnt Verletzter Nummer 2, ebenfalls ein Freiwilliger, hält sein offensichtlich gebrochenes Handgelenk und schreit vor Schmerzen. Knapp oberhalb von ihm hängt in einem Klettergurt Verletzter Nummer 3. Die lebensechte Puppe simuliert einen Ohnmächtigen.

Zunächst wird Verletzter 3 langsam abgeseilt, der Arzt prüft seine Vitalzeichen und beginnt mit der Wiederbelebung. Er ruft nach Verstärkung, doch der Wind ist so laut, dass ihn seine Kollegen nicht verstehen können. Über Verletzten 2 wird der Notarzt später sagen: „He was crying, so I knew he was okay.

Auf engem Raum stabilisiert die Notärztin den Verletzten.© Eurac Research | Andrea De Giovanni

Zurück zu Verletztem 1: Das Bein ist mittlerweile stabilisiert, und obwohl er in eine Rettungsdecke gewickelt ist, zittert er am ganzen Leibe. Die zwei Ärztinnen arbeiten mit bloßen Händen. Sie scheinen von der Eiseskälte nichts mitzubekommen. Um sich zu verständigen, müssen die beiden gegen den Wind anbrüllen. Die Finsternis, die nur durch die Leuchtkegel der Stirnlampen durchbrochen wird, erschwert die Kommunikation zudem. Nicht immer scheint die eine gleich zu verstehen, was die andere ihr mitteilen will.

In der Zwischenzeit ist es dem Notarzt hinter dem Felsen gelungen, Kontakt zur Teamleaderin aufzunehmen, nun befinden sich zwei Verletzte, zwei Ärzte und ein Bergretter auf engstem Raum in dem Felsloch. Während der Verletzte 2 immer noch jammert, wird die Puppe unermüdlich wiederbelebt. Auch hier erschweren die Bedingungen sichtlich die Verständigung zwischen den Ärzten und mit dem restlichen Team auf der anderen Seite des Felsens. Dann endlich ist alles bereit, um Verletzten 2 aus dem schmalen Raum zu ziehen und ihn auf der anderen Seite wieder abzuseilen. Er wird an einen geschützten Platz begleitet, die Teamleaderin bleibt ab jetzt bei ihm. Nachdem sie sich einen Überblick über die Situation verschafft hat, ruft sie in der Notfallzentrale an und ordert den Rettungshelikopter. Aus dem Dunkeln hört man durch den Wind Rufe: „Dov’è il blanket? C’è il simulante che trema di brutto.“

Die Simulationspuppe wird wiederbelebt.© Eurac Research | Andrea De Giovanni

Mittlerweile haben die beiden Notärzten im Felsloch es geschafft, den Verletzten 3 wiederzubeleben und ihn hinter dem großen Felsen hervorzubringen. Auch der Verletzte 1 wurde für den Transport vorbereitet. Die Thermotür geht auf, die beiden Schwerverletzten werden hinausgetragen, Verletzter 2 kann auf eigenen Beinen den Raum verlassen und in den imaginären Rettungshubschrauber steigen.

Debriefing

Warme Luft strömt der Gruppe entgegen, und mit ihr kommt auch die Leichtigkeit wieder zurück. Die klimatischen Bedingungen in dem Large Cube ließen die Situation sehr real erscheinen und fast vergessen, dass es sich nicht um einen echten Notfall handelte. Jetzt weicht die Spannung nach und nach aus den Gesichtern des Rettungsteams, es wird wieder gelacht und gescherzt. „I’m dying for science“, tönt es plötzlich aus einer der dick eingepackten Notfalltragen. Es ist Verletzter 1, der noch nicht aus dem Hypothermie-Rettungssack befreit worden ist.

Debriefing nach der Übung.© Eurac Research | Andrea De Giovanni

Nachdem alle ihre Klettergurte, Helme und Funktionsbekleidung losgeworden sind, trifft sich die Gruppe mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen des Instituts für alpine Notfallmedizin zum Debriefing. Diese Nachbesprechung im Warmen ist für das Training ebenso wichtig, wie die Simulation des Bergunfalles selbst. Dabei wird nicht nur bewertet, ob und wie das Team die Aufgabenstellung gemeistert hat, es geht gleichzeitig auch darum, das gesammelte Wissen und die gemachten Erfahrungen zu teilen und zu besprechen. So kann das Erlebte analysiert und als Vorbereitung für zukünftige Einsätze genutzt werden. Das hilft auf persönlicher Ebene dabei, die Dinge zu verarbeiten, und dem Team hilft es, sich zu verbessern.

Schon bald kristallisiert sich heraus, dass die klimatische Extremsituation die Kommunikation auf allen Ebenen verkomplizierte: zwischen den Ärzten und Ärztinnen ebenso wie mit den Bergrettern und der Teamleaderin und auch mit der Rettungszentrale im Krankenhaus. Eingespielte Teams hatten es zwar – wenig überraschend – etwas leichter, aber insgesamt war man sich einig: Die größte Schwierigkeit hatte darin bestanden, alle relevanten Informationen schnell und sicher an die Teamkollegen und -kolleginnen, aber auch an die Welt draußen weiterzugeben. „Every word I wanted to say, I had to scream it out, and I could never be sure if it was understood.

Auch Simon Rauch, Notfallmediziner und Forscher von Eurac Research, bestätigt, dass Einsätze im Gebirge die Rettungsteams vor ganz andere Herausforderungen stellen als die Notfallmedizin in der Stadt. Deshalb sei es so wichtig, in Übungen zu erproben, wie lebensrettende Eingriffe bei Schwerverletzten auch in schwierigem Terrain und unter extremen Bedingungen durchgeführt werden können.

Es wurde deutlich: Um auf Rettungseinsätze in Extremsituationen vorbereitet zu sein, braucht es nicht nur Kenntnis und Übung an den neusten Technologien. Auch die Soft Skills, wie Teamfähigkeit, Kommunikationsstärke, Leadership und Situationsbewusstsein wollen trainiert sein, damit die Kommunikation auch unter widrigen Bedingungen funktioniert.

ICAR-Training im terraXcube


Die Übungen wurden im Oktober 2023 abgehalten. Die eingeladenen Medizinerinnen und Mediziner waren Mitglieder der internationalen Kommission für Alpine Notfallmedizin ICAR, deren Jahresversammlung dieses Jahr in Toblach stattfand. Neben dem Bergrettungsunfall unter extremen Bedingungen erprobten sie eine Reihe von innovativen notfallmedizinischen Verfahren. Neben der kleinsten ECMO-Maschine der Welt (Colibrì, Eurosets s.r.l., Medolla, Italien), konnte auch die „retrograde Ballonokklusion der Aorta“, kurz REBOA, erprobt werden. Dieses Verfahren wird normalerweise bei schweren inneren Blutungen angewandt. Dabei wird ein kleiner Ballon bis zur Hauptschlagader eingeführt und dort aufgeblasen, um die Blutung zu stoppen. Experten des Ospedale Maggiore in Bologna führen diese Technik bereits bei ihren Einsätzen im Rettungshubschrauber durch und gaben ihre Erfahrungen beim Training in Bozen weiter. Außerdem wurden schwierige Intubationstechniken geübt, einmal bei Normaltemperaturen und zum Vergleich auch bei minus 20 Grad Celsius.

Da sich zunehmend mehr Menschen in die Berge und auch ins Hochgebirge begeben, und der Klimawandel Naturereignisse wie Erdrutsche und Felsstürze wahrscheinlicher macht, werden extreme Rettungssituationen immer häufiger werden. „Wir gehen davon aus, dass in Zukunft Unfälle und Notfallsituationen unter schwierigen Bedingungen zunehmen werden. Dieses Training im terraXcube ist eine wertvolle Gelegenheit, um die Rettungsteams darauf vorzubereiten – auch im Hinblick auf eine erweiterte Ausbildung der neuen Generation von Fachkolleginnen und -kollegen“, betonen Hermann Brugger und Luigi Festi, ihres Zeichens Co-Leiter und Koordinator des internationalen Masterstudiengangs für Alpine Notfallmedizin, der von der Universität Insubria, der Universität Mailand-Bicocca und Eurac Research ausgerichtet wird.

Partner des zweitägigen Trainings im terraXcube waren die ICAR (Internationale Kommission für Alpine Notfallmedizin), die Universität Bicocca in Mailand, die Universität Insubria, CNSAS (Corpo Nazionale Soccorso Alpino e Speleologico), die Bergrettung Südtirol, der Südtiroler Sanitätsbetrieb und Aiut Alpin Dolomites.

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