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Penpa Tsering ist seit 2021 Präsident der tibetischen Exilregierung im indischen Dharamsala.

© Eurac Research | Annelie Bortolotti

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„Pekings Ziel ist es, junge Tibeter zu Chinesen zu machen“

Ein Interview mit dem Präsidenten der tibetischen Exilregierung, Penpa Tsering

1994 hat Eurac Research die Central Tibetan Administration, die tibetische Exilregierung mit Sitz im indischen Dharamsala, zum ersten Mal zu Fragen einer Autonomie beraten. Der Austausch ist seitdem nie abgebrochen. Kürzlich besuchte der derzeitige Regierungschef Penpa Tsering unser Forschungszentrum – Gelegenheit für ein Interview über die chinesische Assimilierungspolitik, die Nachfolge des Dalai Lama und die widersprüchliche Haltung des Westens.

Wenn heute von Menschenrechtsverletzungen durch China die Rede ist, geht es meist um die Uiguren, um Hongkong – hat die Welt Tibet vergessen?

Penpa Tsering: Nein, gerade sehen wir wieder mehr Interesse. Die Konzentrationslager in Xinjiang, die neuen Sicherheitsgesetze für Hongkong, auch die Kritik der UN-Sonderberichterstatter an chinesischen Zwangsinternaten in Tibet … Chinas Verhalten insgesamt hat dazu geführt, dass jetzt alle China besser verstehen wollen. Besonders in Lateinamerika weiß man wenig über China, obwohl das Land ein wichtiger Handelspartner ist. Ich war erst kürzlich in Brasilien, Kolumbien, Mexiko, und bei diesen Besuchen sage ich: Wir sind nicht nur hier, um Unterstützung für Tibet zu gewinnen – China zu verstehen ist gut für euer Land, für euer Volk. Und die internationale Gemeinschaft gibt uns mehr Raum als früher, man ist bereit, uns zuzuhören.

Wir bitten die demokratischen Länder, uns nicht nur als Opfer, sondern auch als Partner zu betrachten.

Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung

Was ist Ihre Botschaft an die demokratischen Länder?

Penpa Tsering: Zum einen erklären wir ihnen: Wenn ihr Tibets Zugehörigkeit zur Volksrepublik China als legitim anerkennt, handelt ihr gegen das Völkerrecht. Was heute der Ukraine geschieht und vor siebzig Jahren in Tibet geschah, als China das Land mit Gewalt besetzte: Es ist das gleiche Recht, das gebrochen wird. Auch machen wir den westlichen Regierungen einen Widerspruch deutlich: Sie verleihen Chinas Herrschaft über Tibet Legitimität, beteuern aber andererseits, sie unterstützen Verhandlungen über eine Lösung zwischen Vertretern des Dalai Lama und der chinesischen Regierung – das passt nicht zusammen. China regiert Tibet mit eiserner Hand und die gesamte internationale Gemeinschaft wiederholt trotzdem wie ein Papagei, was die chinesische Regierung von ihr hören will – welchen Grund sollte China also haben, mit uns zu reden? So entziehen die westlichen Länder den Boden für Verhandlungen. Außerdem bitten wir die demokratischen Länder, uns nicht nur als Opfer, sondern auch als Partner zu betrachten: Um in China positive Veränderungen zu bewirken, müssen interne und externe Kräfte zusammenwirken. Tibeter, Uiguren, Hongkonger – wir sind die inneren Kräfte.

Sie haben den UN-Bericht über das chinesische Internatssystem in Tibet erwähnt, mit dem Kinder in die dominierende Han-Kultur assimiliert werden sollen – welches Ausmaß hat dieses System?

Penpa Tsering: Die UN-Sonderberichterstatter sprechen von rund einer Million junger Tibeter, die von ihren Eltern getrennt und in diese Internate gezwungen wurden, darunter 150.000 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Und das System wird ständig erweitert. Die Kinder dürfen nur Chinesisch sprechen. Früher hatten wir Angst vor massiver chinesischer Immigration nach Tibet, also einem demografischen Angriff – das findet nicht in dem Maß statt, wie wir befürchtet hatten, vielleicht auch deshalb, weil die chinesische Bevölkerung altert und schrumpft. Peking verfolgt deshalb nun eine neue Politik: die jüngere Generation der Tibeter zu Chinesen zu machen. Wenn das noch ein oder zwei Jahrzehnte so weitergeht, dann wird eine ganze Generation junger Tibeter die tibetische Sprache, Kultur, Religion und Lebensweise nicht mehr kennen.

Das lässt an die Kampagnen zur Assimilierung der Uiguren in Xinjiang denken …

Penpa Tsering: Deshalb sage ich immer: Während die ganze Welt sich in Richtung Multikulturalismus bewegt, geht Peking in die Gegenrichtung – auf Kosten der Identität der anderen Nationalitäten, der Tibeter, Mongolen, Uiguren. Wir bringen alle diese Völker, die unter Diskriminierung leiden, manchmal zu Treffen zusammen. Und ich sage unseren uigurischen Freunden immer wieder: Wir stehen nicht im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Welt. Die Uiguren, die Hongkonger, die Tibeter: Der Unterdrücker ist immer derselbe, also ist die Wirkung auf die internationale Gemeinschaft die gleiche.

Ich sage unseren uigurischen Freunden immer wieder: Wir stehen nicht im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Welt.

Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung

Der Dalai Lama vertritt für die Lösung des Tibet-Konflikts einen „mittleren Weg“ – keine Forderung nach Unabhängigkeit, aber eine weitreichende Autonomie; ist dies auch ihre Position?

Penpa Tsering: Ja, denn wir sind der Meinung, dass dies die pragmatischste Position ist. Wir können Tibet nicht in eine andere Weltgegend verpflanzen – wir werden auch in Zukunft mit China als Nachbarn leben müssen, also ist es besser, es herrscht zwischen uns Harmonie als dass wir uns bekämpfen. Der Dalai Lama schätzt sehr das Konzept der Europäischen Union und sagt immer, ohne die EU würden die europäischen Länder immer noch Kriege gegeneinander führen. Wenn das Konzept auf Europa anwendbar ist, warum nicht auch auf China. Aber um dem mittleren Weg zu mehr Anerkennung zu verhelfen, verfolgen wir nun eine neue Strategie.

Wie sieht die aus?

Penpa Tsering: Wir konzentrieren uns darauf, den historischen Status Tibets als unabhängiger Staat zu beweisen: Damit wird der Wert einer Autonomie als Kompromisslösung deutlicher. Und wir schicken der chinesischen Regierung eine klare Botschaft, dass sie nicht einfach die Geschichte ändern kann; als Peking den Dalai Lama aufforderte, zu erklären, Tibet sei seit der Antike ein Teil von China, war seine Antwort: Ich bin ein buddhistischer Mönch, ich kann nicht lügen; und ich bin kein Historiker, also überlassen wir die Geschichte den Historikern. Deshalb habe ich diese beiden Bücher dabei: „Tibet erklärt: Tibet war nie Teil von China“ von Michael Van Walt Van Praag und Miek Boltjes – die Autoren haben mit Hunderten von Gelehrten zusammengearbeitet und kommen zu dem Schluss, dass Tibet nie als Teil Chinas betrachtet wurde; und das Buch eines chinesischen Professors, der die historischen Aufzeichnungen aus der Kaiserzeit untersucht hat – auch sie zeigen Tibet immer als unabhängiges Land. Wir richten damit aber auch eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft: Schaut euch bitte die tibetische Geschichte an – dann seht ihr, dass ihr nicht sagen könnt, was die chinesische Regierung von euch hören will. Und die dritte Botschaft richtet sich an die Tibeter selbst: Wenn wir unsere Geschichte nicht studieren – wer sonst sollte es tun?

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Penpa Tsering im Gespräch mit Forschenden von Eurac Research.© Eurac Research - Annelie Bortolotti
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Penpa Tsering im Gespräch mit Forschenden von Eurac Research.© Eurac Research - Annelie Bortolotti
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Penpa Tsering im Gespräch mit Forschenden von Eurac Research.© Eurac Research - Annelie Bortolotti
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Penpa Tsering im Gespräch mit Forschenden von Eurac Research.© Eurac Research - Annelie Bortolotti

Wenn die Assimilierung in Internaten noch ein oder zwei Jahrzehnte so weitergeht, dann wird eine ganze Generation junger Tibeter die tibetische Sprache, Kultur, Religion und Lebensweise nicht mehr kennen.

Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung

Ist in der Exilgemeinschaft das Ziel einer Autonomie unumstritten oder gibt es auch Stimmen, die die Unabhängigkeit fordern?

Penpa Tsering: Es gibt auch jene, die für eine Unabhängigkeit eintreten. Aber wer für die Zukunft die Unabhängigkeit anstrebt, muss erst einmal den unabhängigen Status in der Vergangenheit beweisen – darauf zu fokussieren ist also auch ein Weg, den verschiedenen Elementen innerhalb der tibetischen Gemeinschaft eine Möglichkeit zur Zusammenarbeit zu geben.

Gibt es derzeit Gespräche zwischen der Exilregierung und Peking?

Penpa Tsering: Nein. Es gab sie, zu einem gewissen Grad, zwischen 2002 und 2010 – aber das lag vor allem daran, dass China vor den Olympischen Spielen keine Kritik wollte. Mit Ende der Olympiade war die Mission erfüllt: also keine Gespräche mehr. Im Moment haben wir inoffizielle Kontakte, doch setzen wir keine allzu großen Erwartungen in sie. Wir müssen jedoch die Kommunikation aufrechterhalten und langfristig denken, über die Regierungszeit Xi Jingpings hinaus. Und als Buddhisten glauben wir an die Vergänglichkeit … und gerade jetzt gibt es eine Menge Veränderungen.

Im Moment haben wir nur inoffizielle Kontakte mit Peking, doch setzen wir keine allzu großen Erwartungen in sie. Wir müssen jedoch langfristig denken, über die Regierungszeit Xi Jingpings hinaus.

Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung

Bisher sind die Tibeter den Weg der Gewaltlosigkeit gegangen: Gibt es in Tibet Stimmen, die angesichts der Unterdrückung nicht mehr an diesen Weg glauben, die sagen, die Tibeter müssen für ihre Freiheit kämpfen?

Penpa Tsering: Das hören wir nicht sehr oft. Der Dalai Lama hat immer gesagt: Wenn die Tibeter zur Gewalt greifen, bin ich nicht mehr verantwortlich. Wir bekennen uns absolut zur Gewaltlosigkeit als Mittel der Konfliktlösung. Wenn dies in Tibet gelingt, wird es ein Beispiel für viele gewaltsame Konflikte in der Welt sein.

Angesichts der strengen Überwachung: Schaffen sie es, mit den Menschen in Tibet in Kontakt zu bleiben, zu kommunizieren?

Penpa Tsering: Es ist sehr schwierig. Sogar die Radiosender wie Voice of America, Radio Free Asia, Voice of Tibet, die wir von der Exilgemeinde aus senden, erreichen die Menschen in Tibet oft nicht, es gibt zu viele Störsender. Indien hat außerdem WeChat verboten, die beliebteste chinesische App. Aber die Leute kommunizieren über VPN, das ist eine Möglichkeit, an Informationen zu kommen. Die Zahl der Tibeter, denen es gelingt, aus Tibet nach Indien zu gelangen, ist seit 2008 ebenfalls stark zurückgegangen. Vor 2008 kamen jedes Jahr zwischen 2500 und 3000 Tibeter nach Indien – meist Kinder, die die Berge des Himalaya zu Fuß überquerten und ihr Leben riskierten, ohne zu wissen, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen würden. 2021 kamen nur fünf, 2022 zehn, vergangenes Jahr waren es 47. Wir tun unser Bestes, um an Informationen aus Tibet zu kommen, und auch Informationen zu senden. Über das Telefon zu sprechen ist wegen der Abhörung sehr schwierig. In Nachrichten kann man besser etwas verstecken.

Spüren auch tibetische Gemeinschaften im Exil die chinesische Kontrolle?

Penpa Tsering: Ja, dies hat stark zugenommen, seit Xi Jingping an der Macht ist. Vorher hat sich die „Zentralabteilung Vereinigte Arbeitsfront“, die dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas untersteht, darauf konzentriert, innerhalb Chinas Probleme zwischen den Nationalitäten zu schaffen. Jetzt operiert diese Abteilung auf der ganzen Welt. Sie hat viele Mechanismen, um Einfluss zu nehmen, zum Beispiel illegale chinesische Polizeistationen in anderen Ländern, Kanäle in politische Parteien. Das alles ist sehr gut in dem Buch „Die lautlose Eroberung“ beschrieben, das darlegt, wie China westliche Demokratien unterwandert.

Eine Autonomie für Tibet ist die pragmatischste Lösung. Aber in der Exilgemeinschaft gibt es auch Stimmen, die für die Unabhängigkeit eintreten.

Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung

Der Dalai Lama ist 88 – die Regierung in Peking hat schon klargemacht, dass sie bei der Wahl des Nachfolgers mitreden will.

Penpa Tsering: 2007 hat Peking ein Gesetz mit dem Inhalt verabschiedet, dass das nationale Religionsbüro die Reinkarnation des nächsten Dalai Lama anerkennen muss. Die Machthaber in Peking warten darauf, dass der Dalai Lama stirbt. Der jetzige Dalai Lama macht ihnen keine Sorgen, sie denken an den nächsten Dalai Lama, denn sie wissen, wenn sie den Dalai Lama kontrollieren können, können sie auch Tibet kontrollieren. Aber wenn die chinesische Regierung einen Dalai Lama auswählt, wird es zwei Dalai Lamas geben – den der Chinesen und den der Tibeter. Und meine Warnung an die chinesische Regierung ist: Wollen Sie wirklich ein Problem schaffen, das noch lange besteht, wenn Xi Jinping längst nicht mehr unter uns ist? Der Dalai versichert uns aber immer wieder, dass er noch ein Jahrzehnt oder länger leben wird. Zu seiner Nachfolge will er sich äußern, wenn er 90 ist. Es sind also alle Optionen offen. Das macht es für die Regierung Chinas komplizierter, denn mit Unvorhersehbarkeit kann sie nicht umgehen.

Denken Sie, es ist möglich, noch zu Lebzeiten dieses Dalai Lama in Richtung einer Lösung voranzukommen?

Penpa Tsering: Das ist, was wir alle hoffen, denn dieser Dalai Lama ist sehr pragmatisch. Er geht von der realen Situation aus, mit dem Ziel, die tibetische Identität zu bewahren. Eine Lösung des Konflikts ist zudem nicht nur für Tibet wichtig, sondern für die ganze Welt. Tibet ist wegen seiner geostrategischen Lage zentral für den Frieden und die Stabilität in der gesamten Region, und hat große Bedeutung für die Wasser- und Ernährungssicherheit. Außerdem ist die tibetische buddhistische Kultur, die auf Gewaltlosigkeit, Frieden und Mitgefühl beruht, von großem Wert gerade in dieser Zeit, wo so viele Konflikte die Welt heimsuchen.

Penpa Tsering

Penpa Tsering ist seit 2021 „Sikyong“ (Präsident) der tibetischen Exilregierung mit Sitz im indischen Dharamsala. Seitdem der Dalai Lama 2011 alle politischen Ämter zurückgegeben hat, wird das Amt durch Wahlen in tibetischen Exilgemeinschaften in über 30 Ländern besetzt. Penpa Tsering ist schon im Exil geboren, in einer Siedlung tibetischer Flüchtlinge in Südindien. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und wurde 1996 erstmals in das Exilparlament gewählt. Ab 2008 war er Sprecher des Exilparlaments und in den Jahren 2016 und 2017 Nordamerika-Vertreter des Dalai Lama in Washington.


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